Kapitel 5.5

Es stellt sich aber die Frage, wann aus einem normalen Alltagsärger eine psychisch bedingte „Wutbelastung“ wird. Eine Wutbelastung beginnt dann, wenn sie ihre Wut nicht mehr „kontrollieren“ können. Diese fehlende Kontrolle beginnt, wenn sich ihre Wut nicht nach wenigen Minuten von alleine auflöst, sondern dauerhaft bestehen bleibt.

Dieser Zustand permanenter Wut kann sehr belastend sein, wird aber von den Betroffenen nur selten als ein Problem der eigenen Person wahrgenommen. Wenn sich eine Ehefrau permanent über das Verhalten des Ehemanns aufregt, dann hat dieser auch permanent etwas falsch gemacht. Auf die Idee, daß das Verhalten des Ehemanns völlig in Ordnung ist und man selber eine „Wutbelastung“ hat, auf die Idee kommt niemand.

Ein weiteres Kriterium für eine Wutbelastung ist neben der Dauerhaftigkeit die „Stärke“ der Wut. Ein normales „Aufregen“ ist nicht unangenehm oder schmerzhaft, sondern in bestimmten Situationen sogar hilfreich. Wenn der Ärger an der richtigen Stelle kommt, dann können sie durch eine „Wutreaktion“ ihren Ärger kompensieren und abbauen und geraten durch das Aufregen wieder in ein Gleichgewicht.

Bei einer „Wutbelastung“ ist diese Kompensationsreaktion nur bedingt möglich. Bei einer Wutbelastung wird die Emotion „Wut“ eingesetzt, um den Patienten leiden zu lassen. Die Emotion „Wut“ wird von einer „exogenen“ Emotion, die durch ein exogenes Ereignis ausgelöst wird, zu einer endogenen Emotion, d. h. zum Symptom einer Krankheit. Der Patient soll leiden und „inneren Schmerz“ empfinden, um auf diese Weise Signale gesendet zu bekommen, daß etwas nicht in Ordnung ist.

Als Wutpatient haben sie dann zwei Möglichkeiten: Entweder sie leben ihre Wut aus, dann haben sie allerdings niemanden mehr, der etwas mit ihnen zu tun haben will oder sie schlucken ihre Wut runter, dann müssen sie allerdings jeden Tag an ihrer Wut leiden. Die Wut ist also ein klassisches Dilemma.

Die Kombination aus „Dauerhaftigkeit“ und „Stärke“ kann die Wut zu einer schweren Krankheit machen. Wenn sie schon morgens mit einer Wut aufwachen, den ganzen Tag daran denken müssen und nachts mit einer Wut schlafen gehen, dann haben sie keine Lebensqualität. Einige Menschen können ihre Wut noch etwas „kompensieren“, in dem sie zum Beispiel auf eine Protestveranstaltung gehen, aber die meisten Wutpatienten leiden still vor sich hin.

Die Kategorien der Wut

Es gibt viele Möglichkeiten, das Thema „Wut“ zu kategorisieren:

Es gibt zum einen Wutthemen aus dem persönlichen Bereich, wie z. B. Familie und Berufsleben, und „abstrakte“ Wutthemen, wie z. B. Politiker oder Ausländer.

Das Thema Wut kann eingeteilt werden nach der Art der „Kompensation“. So gibt es Menschen, die aktiv werden müssen, z. B. ausrasten oder protestieren, es gibt Menschen, die einfach nur vor sich hinschimpfen und es gibt Menschen, die ganz still und leise vor sich hin leiden.

Es gibt Menschen, die sich ihrer Wutproblematik bewußt sind und andere, die sie abstreiten

Und es gibt Wutthemen aus der Gegenwart und Wutthemen aus der Vergangenheit.

Die „Wutgeschichten aus der Vergangenheit“ sind der Klassiker unter den Wutproblemen. Ein Wutthema aus der Vergangenheit ist eine Situation, die mehr oder weniger jeder kennt. Obwohl eine „verletzende“ Situation bereits Jahre zurückliegt und es überhaupt keinen Bezug mehr zu der verletzenden Person gibt, kocht die Geschichte heute noch hoch und man regt sich heute noch über das Thema auf.

Obwohl die Situation schon lange verarbeitet und verdrängt sein müßte, steigert man sich in die Situation hinein und macht auch heute noch Vorwürfe. Und je mehr Streß man im Alltagsleben hat, desto häufiger und länger kochen die Themen hoch.

Wutthemen aus der Vergangenheit eignen sich gut, um den Patienten „Botschaften zu zusenden“. Wäre das Zielobjekt der Wut die Ehefrau, dann würde man einfach nur jeden Tag Streit anfangen. Niemand käme auf die Idee, seine Wut zu hinterfragen. Bei „sinnlosen“ Geschichten aus der Vergangenheit kann niemand mehr Streit anfangen, so daß der eine oder andere Patient zumindest theoretisch auf die Idee kommen könnte, daß es nicht wirklich um die tatsächliche Geschichte aus der Vergangenheit geht, sondern um die „mentale Verfassung“ der Gegenwart. Tatsächlich verstehen aber nur sehr wenige Menschen diese Botschaft.

Die Wut nimmt unter den drei Grundemotionen der Mental-Therapie insofern eine Sonderstellung ein, weil kaum ein Betroffener sich überhaupt bewußt ist, daß er an einer „Wutbelastung“ leidet. Kein Wutmensch kommt auf die Idee, das Problem bei sich selber zu suchen, sondern schiebt die Schuld immer auf das wutmachende Thema. Das gilt auch dann noch, wenn der wutkranke Mensch irgendwann Ärger mit der Justiz bekommt. Die Therapie von Wutpatienten scheitert also in vielen Fällen bereits in der Erkenntnisphase.

Das Auflösen einer Wut

Das Auflösen einer Wut soll an einem Beispiel dargestellt werden. Das Beispiel, das gewählt wurde, ist eine Wut über eine Geschichte aus der Vergangenheit: „Mein bester Freund hat mir in der Schule die Freundin ausgespannt“.

Wenn sie an einer Wutbelastung leiden, dann muß die Geschichte, die die Wut auslöst, sie stark belasten. Die Geschichte, daß ihr ehemaliger Schulfreund ihnen die Freundin ausgespannt hat, muß mehrmals am Tag hochkochen und muß sie über einen längeren Zeitraum wütend machen. Sie müssen vor sich hin schimpfen, Monologe mit sich selber führen, Vorwürfe machen und ihre völlige Empörung über das Verhalten zum Ausdruck bringen.

Der Auflösungsprozeß der Wut ist dann der gleiche wie bei der Angst. Zunächst müssen sie ihre Wut allgemein ausformulieren: „Die Wut auf meinen Freund, weil er mir die Freundin ausgespannt hat“. Das wäre Mentalsatz 1. Dann müssen sie in Mentalsatz 2 die Wut möglichst exakt definieren: Meine Wut, daß er sich heimlich mit meiner Freundin getroffen hat. Meine Wut, daß ich ihm blind vertraut habe. Meine Wut, weil er mich hintergangen hat.

Das gewählte Beispiel ist gut geeignet, um die Technik: „Die Akteure der Handlung“ zu erläutern, die in Kapitel 5.2. „Angstgeschichte“ vorgestellt wurde. Wenn sie versuchen, ihre Wut exakt zu definieren, dann stellt sich folgende Frage: Bin ich eigentlich böse auf meinen Freund oder auf meine Freundin? Zu einer Affäre gehören ja immer zwei Personen.

Das heißt sie müssen sämtliche Akteure, die in der Geschichte eine Rolle spielen, in die Analyse einbeziehen, d. h. auch die Freundin selber. Die Mentalsätze würden dann lauten: Die Wut auf meine Freundin, weil sie mich hintergangen hat oder die Wut auf meine Freundin, weil sie nicht vorher Schluß gemacht. Theoretisch kann auch eine völlig unbeteiligte Person das „wahre“ Objekt der Wut sein. Zum Beispiel die eigene Schwester, die die beiden zusammen gesehen hat, aber nichts gesagt hat.

In Mentalsatz 3 müssen sie Wutgründe, d. h. mögliche Folgen ableiten: Meine Wut, weil ich jahrelang alleine war oder meine Wut, weil ich mich vor allen Menschen zum Narren gemacht habe. Und dann müssen sie in Mentalsatz 4 die Wut in ihre Einzelteile zerlegen. Was ist es wirklich, was mich zur Rage bringt. Ist es die fehlende Loyalität, der Mangel an Anstand, Eifersucht, Neid oder ganz einfach nur der Sex, der mir entgangen ist?

Sie müssen immer weiter segmentieren und nicht nur die offensichtlichen Gründe durchgehen, sondern auch die weniger offensichtlichen: Ist es vielleicht das fehlende Gespräch, die fehlende Erklärung, die unterlassene Entschuldigung oder ist es vielleicht etwas ganz anderes?

Die Ereignis-Ebene der Wut

Auf der Ereignis-Ebene steht die Wut für „Ungerechtigkeit“. Sie haben also in ihrer Kindheit eine Situation erlebt, die sie als ungerecht empfunden haben und diese Ungerechtigkeit macht sie wütend. Der Klassiker unter den Ungerechtigkeiten ist die „Bevorzugung“ eines Geschwisters. Ein jüngeres Geschwister wird in Relation zum älteren immer „bevorzugt“.

Für viele Mütter ist das ältere Kind, wenn das jüngere erst einmal da ist, nur noch „Luft“. Sie folgen ihren Instinkten und kümmern sich voller Inbrunst um ihr Kind. Die Instinkte löst aber nur noch das jüngere Kind aus. Das ältere Kind stört nur noch. Wenn das ältere Kind dann Theater macht, dann führt das nicht dazu, daß sich die Mutter mehr um das ältere Kind kümmert, sondern die Folge sind negative Reaktionen.

Wenn das jüngere Kind bevorzugt wird und das ältere Kind rebelliert, dann kann die Diskrepanz zwischen der Bevorzugung des jüngeren Kindes und der Mißbilligung des älteren sehr krass werden. Eine Bevorzugung ist nicht nur zwischen jung und alt möglich. Sie kann auch stattfinden, wenn das eine Kind nach dem Vater geht und das andere nach der Mutter oder zwischen dem wilden Jungen und dem braven Mädchen. Diese Bevorzugung kann sich locker über mehrere Jahre hinziehen und es kann sich ein Druck aufsstauen, der krank machen kann.

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