Aktualisierung 2

Der Zwang

Der Zwang ist, bezogen auf die Komplexität, sicherlich „der König der Symptome“. Der Zwang ist so kompliziert, weil er zwei Symptome miteinander kombiniert. Bei der erstmaligen Entschlüsselung eines Zwanges haben sie eine Gleichung mit zwei Unbekannten und darüber habe ich mir jahrelang den Kopf zerbrochen

Der Durchbruch ist gekommen, als ich das Symptom der Sucht verstanden habe und das Trauma gefunden habe, das der Sucht zugrunde liegt. Da der Zwang mit der Sucht verwandt ist (bei beiden Symptomen wird eine Emotion gelöscht), habe ich dann auch den Zwang verstanden. Da das Symptom des Zwanges kompliziert ist, werden auch die Erläuterungen etwas komplizierter.

Das Anhängen einer Sucht

In Aktualisierung 1 wird die Frage aufgeworfen, ob der „Entzug“ eine eigene Grundemotion ist und es damit nicht 3, sondern 4 Grundemotionen gibt (Angst, Niedergeschlagenheit, Wut und Entzug). Ich persönlich bleibe bei 3 Grundemotionen. Aus folgendem Grund:

Das dem Entzug zugeordnete Krankheitsbild der „Sucht“ gibt es in der Mental-Therapie nicht. Da der Begriff „Sucht“ bereits in der „Drogensucht“ benutzt wird, würde der selbe Begriff bei den psychischen Erkrankungen zu Verwechselungen führen. Das Krankheitsbild der Sucht heißt in der Mental-Therapie „löschbare Niedergeschlagenheit“. Umgangssprachlich ist eine Sucht ein „Kampf“. Da der Patient bei einer Sucht mit der Emotion der „Niedergeschlagenheit“ kämpft, handelt es sich um einen Niedergeschlagenheitskampf. Der Unterschied zwischen einer herkömmlichen „Niedergeschlagenheit“ (Depression) und einem „Niedergeschlagenheitskampf“ (Sucht) ist der folgende:

Während sie bei einer normalen Niedergeschlagenheit dauerhaft an einer negativen Emotion leiden, bekommen sie bei einem Niedergeschlagenheitskampf eine klare Botschaft, wie sie die Niedergeschlagenheit auflösen können. Sie leiden also nicht primär an der Niedergeschlagenheit, sondern sie leiden an dem Verzehren nach der Auflösung.

Der „Entzug“ ist also keine eigenständige Emotion, sondern er wird der Grundemotion „Niedergeschlagenheit“ angehängt. Der normalen Niedergeschlagenheit wird ein Verzehren nach dem Auflösungsmittel angehängt, mit dem Ergebnis, daß sie im „Idealfall“ die Niedergeschlagenheit gar nicht wahrnehmen. Wenn sie frühzeitig mit dem Alkoholkonsum beginnen, nehmen sie die Niedergeschlagenheit gar nicht wahr.

Das „Anhängen einer Sucht“, d. h. das Verzehren nach der Auflösung der Emotion, ist nicht nur bei dem Symptom der Niedergeschlagenheit möglich, sondern bei allen Grundemotionen. Auch bei einer Angst und einer Wut können sie sich nach einer Auflösung verzehren. Sie können also nicht nur süchtig werden, eine Niedergeschlagenheit aufzulösen, sie können auch „süchtig“ werden, eine Angst aufzulösen (Zwang) oder eine Wut. 

Das Konzept der Angstsucht

Genau wie das Gefühl der Niedergeschlagenheit bei einer „Depression“ ein ganz anderes ist als bei einer „Sucht“, ist auch das Gefühl der Angst bei einem Zwang ein ganz anderes als bei einer herkömmlichen Angst. Auch bei einem Zwang bekommen sie eine klare Botschaft und einen klaren Hinweis, wie sie die Angst auflösen können und sie verzehren sich nach der Lösung. Wollen oder können sie die Angst nicht löschen, denken sie nicht an die Angst, sondern sie denken an die Auflösung und fragen sich, wie lange halte ich es noch aus, bis ich lösche.

Dieses Konzept der „Angstsucht“, d. h. eine Angst, kombiniert mit einem Verzehren nach Auflösung der Angst, habe ich jahrelang nicht verstanden. Was ich verstanden habe, ist, daß die Angst bei einem Zwang eine ganz andere ist als bei einer normalen Angst. Genau wie bei einer normalen Sucht (Niedergeschlagenheitssucht) werden sie auch bei einem Zwang (Angstsucht) zu einer bestimmten Handlung gedrängt. Es geht also nicht darum, die Emotion auszuhalten, sondern die Emotion zu löschen.   

Und es gab noch einen zweiten Aspekt, den ich am Zwang nicht verstanden habe. Wenn sie eine normale Angst haben, ist die natürliche Reaktion die Meidung, d. h. sie entfernen sich von der Angst. Bei einem Zwang ist dieses Entfernen von der Angst nicht möglich. Wenn sie sich eine „Zwangsangst“ erst einmal „eingefangen“ haben, ist ein Weglaufen nicht mehr möglich. Der Grund ist, daß die Angst „sich einbrennt“ und zwar in der Regel für die Ewigkeit. Nur durch dieses Einbrennen der Angst wird der Zwang zu einem Zwang, denn wenn sich eine Angst nicht von alleine auflöst, sondern für die Ewigkeit bestehen bleibt, haben sie keine andere Wahl als die Löschhandlung zu vollziehen.  

Dieses „Einbrennen der Angst“ für die Ewigkeit habe ich ebenfalls jahrelang nicht verstanden. Ein Einbrennen der Angst für die Ewigkeit würde bedeuten, daß die Bedrohung, für den Fall, daß sie nicht löschen, für die Ewigkeit aufrechterhalten wird. Dieses Konstrukt ist aber nicht plausibel, denn jede Bedrohung hört irgendwann auf. Auch wenn sie nicht löschen.

Auch die zweite Fragestellung läßt sich auflösen, wenn sie das Konzept der Sucht von der Niedergeschlagenheit auf die Angst übertragen. Auch bei einer normalen Sucht (Niedergeschlagenheit), brennt sich das Gefühl der Niedergeschlagenheit ein und zwar solange, bis sie die Sucht befriedigen und die Niedergeschlagenheit löschen. Nur durch Befriedigung der Sucht, löst sich die Niedergeschlagenheit auf. Das Gleiche passiert bei einer Angstsucht. Auch bei einer Angstsucht (Zwang) brennt sich die Angst ein und zwar solange, bis die Angst gelöscht wird.

Das Einbrennen der Angst für die Ewigkeit spiegelt also kein konkretes Ereignis wider. Es soll nicht angedeutet werden, daß die Bedrohung für die Ewigkeit aufrechterhalten wird. Die Botschaft ist, daß der Patient keine andere Wahl hat, keine Alternative hat, als die Löschhandlung zu vollziehen. Es wird also eine „Abhängigkeit“ dargestellt.

Mit der Übertragung des Suchtkonzeptes von der Niedergschlagenheit auf die Angst, können sie also alle Fragen des Zwangs beantworten.

Die Ereignis-Ebene des Zwangs

Die Hauptfrage, die sich an dieser Stelle stellt, lautet: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Angst und einem Zwang. In einem Satz zusammengefaßt, könnte man sagen, daß die Bedrohung bei einem Zwang stärker und intensiver ist.  

Während eine Angst eine klassische Bedrohung ist, die kommt und dann wieder geht, wird die Bedrohung bei einem Zwang „aufrechterhalten“. Der Grund liegt darin, daß die Bezugsperson nicht „Dampf ablassen“ will, sondern ein konkretes Ziel erreichen will. Es sind in der Regel die klassischen Erziehungsziele.

Die Bedrohung wird solange aufrechterhalten, bis das Kind eine bestimmte Handlung zeigt. Das ist dann die Zwangshandlung. Durch die Zwangshandlung wird die Bedrohung dann aufgelöst. Sie müssen dabei aber bedenken, daß die Bezugsperson nicht immer die Handlung generiert, die gewünscht ist. Oft fängt das Kind einfach nur an zu schreien, bis die Bezugsperson abläßt. Aber auch das Schreien ist eine Handlung. Es gibt also grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Entweder das Kind macht das, was gewünscht ist, oder es zeigt eine Abwehrreaktion. Das hängt im wesentlichen von der Stärke der Bedrohung ab. Beides sind aber Handlungen und beides kann durch den Zwang dargestellt werden.   

Da die Bedrohung der Bezugsperson nicht nur einmal geschieht, sondern sehr oft und das jeden Tag, entsteht ein „Kampf“ und dieser Kampf wird durch den Zwang dargestellt. Wenn ein Kind eine Bedrohung abgewehrt hat, beginnt kurze Zeit später eine neue Bedrohung. Und jeder Mensch hat so einen Kampf aus Bedrohung und „Geschrei“ in Dauerschleife schon einmal gesehen. Muß ein Kind lange kämpfen, bis die Bedrohung nachläßt, ist die Anzahl der Wiederholungen, die notwendig ist, um eine Angst zu löschen, sehr hoch, ist die Anzahl der Bedrohungen pro Tag sehr hoch, kommt die Zwangsangst ebenfalls sehr oft pro Tag.

Beim Zwang handelt es sich also nicht um ein Trauma, sondern um zwei Traumata. Das erste Trauma ist die klassische Bedrohung, d. h. die Angst. Das zweite Trauma ist die „Abhängigkeit“. Das Kind ist davon abhängig, eine Abwehrreaktion zu zeigen. Nur durch eine Abwehrraktion kann das Kind die Bedrohung beenden. Diese Abhängigkeit wird dargestellt durch das Einbrennen der Angst und durch diese einzige Handlung, die die Angst auflösen kann. 

Das Auflösen des Zwangs

Die Angst, die dem Zwang zugrunde liegt, wird genau so aufgelöst, wie eine normale Angst. Die Mentalsätze sind also identisch. Da der Zwang in der Regel an eine Angstgeschichte gekoppelt wird, müssen sie sich an dem Krankheitsbild der „Angstgeschichte“ orientieren. 

Das zweite Trauma, das durch den Zwang dargestellt wird, ist eine „Abhängigkeit“ und zwar die Abhängigkeit von einer Abwehrmaßnahme. Das Kind ist „abhängig“ von seiner „Schutzmaßnahmen“, weil die Strafe sonst durchgezogen worden wäre. Genau wie zuvor die Bedrohung segmentiert werden muß, muß nun auch die „Abhängigkeit“ segmentiert werden. „Was war traumatisch an der Abhängigkeit“?

Ähnlich wie bei der Sucht gibt es auch beim Zwang zwei Ebenen. Eine Ebene vor dem Löschen (Abwehren) und eine Ebene nach dem Löschen.

Vor dem Abwehren verzehren sie sich nach dem Löschen: Mein Wunsch zu löschen, mein Wunsch abzuwehren, mein Verlangen, meine Sehnsucht (siehe Sucht). Ich kann den ganzen Tag an nichts anderes denken. Die Angst läßt nur einen Schluß zu: „Ich muß löschen“.

Meine Abhängigkeit, daß die Abwehrmaßnahme erfolgreich ist, meine Abhängigkeit, daß die Löschhandlung funktioniert, ich bin der Löschhandlung ausgeliefert, ich bin auf die Löschhandlung angewiesen, ich bin verdammt zu löschen. Ich habe keine andere Wahl, es gibt keine Alternative.

Meine Abängigkeit davon, daß ich besonders oft wiederholen muß, besonders lange kämpfen muß, daß die Angst täglich mehrfach kommt. Meine Abhängigkeit, daß ich immer eine Lösung finden muß.

Meine Angst, daß ich nicht löschen (abwehren) kann. Die Ungewißheit, ob die Löschhandlung funktioniert, die Unsicherheit, ob die nächste Löschhandlung erfolgreich ist,

Meine Angst, einen Fehler zu machen, meine Angst, etwas zu vergessen, etwas zu übersehen. Angst, an etwas nicht zu denken,

Meine Verzweiflung, meine Hilflosigkeit, meine Ausgeliefertheit, meine Wut, meine Traurigkeit

Nach dem Abwehren müssen sie genau wie bei der Sucht mit allen negativen Konsequenzen des Löschens leben. Die häufigste Folge ist sicherlich das Meiden, d. h. sie hören einfach mit dem auf, was den Zwang auslöst:

Mein Kummer, daß ich nicht mehr das Haus verlassen kann, daß ich meine Freunde nicht mehr besuchen kann, am Freizeitleben nicht mehr teilnehmen kann.

Mein Kummer, daß ich jeden Tag löschen muß. Mein Kummer, daß die Anzahl der Löschhandlung immer größer wird. Meine Sorge, daß das Löschen irgendwann gar nicht mehr funktioniert, daß das Löschen immer komplizierter und aufwendiger wird. Meine Sorge, daß ich irgendwann mit einer dauerhaften Angst leben muß.

Mein Trauma, daß ich alles ertragen muß, was mit der Löschung einhergeht. Jeden Kummer und jedes Leid. Meine permanente Unsicherheit, ob ich alles richtig gemacht habe oder ob ich nicht doch einen Fehler gemacht habe. Meine permanente Angst, ob nicht doch eine Strafe droht oder eine Bestrafung nicht verhindert werden kann.

Angst, daß die Kämpfe unnachgiebig, gnadenlos, brutal waren. Angst, daß die Angst keine Nachsicht, keine Rücksicht und keine Gnade kennt.

Die verschiedenen Formen des Zwang

Desinfektionszwang: Beim Desinfektionszwang wird die „Abwehrhandlung“ besonders deutlich. Sie kommen mit der Bedrohung (Keimen) in Kontakt und müssen die Keime und damit die Bedrohung dann mit einem Desinfektionsmittel „eliminieren“. Die Bedrohung ist dann mit einer handfesten Abwehrmaßnahme beendet worden.

Zählzwang: Ein Zählzwang erinnert an folgende Situation: Stellen sie sich vor, sie fahren übers Wochenende in den Urlaub. Da reicht es aus, wenn sie kurzfristig ein paar Sachen zusammenpacken. Nun stellen sie sich vor, sie fahren nicht übers Wochenende in den Urlaub, sondern für 6 Wochen und sie fahren auch nicht alleine, sondern mit ihrer 5-köpfigen Familie. Dann können sie nicht spontan ein paar Sachen packen, sondern sie müssen eine lange Liste anlegen und sie müssen diese Liste immer wieder durchgehen in der Hoffnung, daß sie nichts vergessen haben.  

Wer also immer wieder „zählt“, will sichergehen, daß er nichts vergessen hat, nichts übersehen hat. Hat er etwas vergessen, nimmt die Bezugsperson dies als Anlaß, eine Bedrohung auszusprechen und um dies zu verhindern, geht man alles „tausendfach“ durch.

Es handelt sich also um eine Situation, in der die Bezugsperson mit dem Verhalten des Kindes unzufrieden ist, ständig Fehler sieht und ständig am Meckern ist. Egal, was das Kind macht, es ist falsch und es gibt ständig irgendetwas auszusetzen.

Das Kind, das die Bedrohung verhindern will, versucht an alles denken, geht die Liste tausendfach durch, was natürlich nicht gelingt, so daß die Bedrohung trotzdem stattfindet. Diese Situation wird mit einem Zählzwang dargestellt.

Herd / Tür kontrollieren: Der Begriff „Kontrollzwang“ ist nicht ganz korrekt, denn im Grunde geht es nicht um „Kontrolle“, im Sinne von „Korrektheit“, es geht um ein „sich vergewissern“. Ein Patient mit einem Kontrollzwang will also nicht wissen, ob A auch A ist, sondern er will 1000%ige Gewißheit, daß A auch A ist.

Der Kontrollzwang ist also verwandt mit dem Zählzwang. Wenn sie eine Glückwunschkarte übergeben sollen, dann kontrollieren sie nicht ein einziges mal, ob die Karte noch da ist. Ist in dem Brief 1 Millionen Euro und sie werden „gehängt“, wenn sie das Geld nicht übergeben, kontrollieren sie „hunderte male“, ob das Geld noch da ist und sie machen sich ständig Sorge, ob das Geld sicher ist.

Ein Patient mit Kontrollzwang will also 1000%ige Sicherheit, daß der Herd aus, weil die Folgen eines Vergessens für sein Leben verheerend wären. Die verheerenden Konsequenzen für das Leben des Patienten werden mit der Angstgeschichte dargestellt, die aktiviert wird, wenn der Patient Zweifel hat, ob der Herd auch wirklich abgeschaltet ist. Die Bedrohung, d. h. die Strafe, die die Bezugsperson aussprechen würde, wenn das Kind nicht an diese eine Sache gedacht hat, ist also so dramatisch, daß sie mit einem verheerenden Großbrand dargestellt wird. Bei so harten Folgen, würde jeder „hundert mal“ kontrollieren.